Martin Schulz: "Ein europäischer Fiskalpakt ohne parlamentarische Kontrolle ist inakzeptabel"

Erste Rede von Martin Schulz auf dem Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs: „Ein europäischer Fiskalpakt ohne parlamentarische Kontrolle ist inakzeptabel“

Der Neugewählte Präsident des Europäischen Parlaments hat in seiner ersten Rede auf dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs der EU die Position des Europäischen Parlaments deutlich gemacht:
„Es ist für mich eine große Ehre, heute zum ersten Mal als Präsident des Europäischen Parlaments zu Ihnen zu sprechen. Wenn auch in neuem Amt und mit neuen Würden ausgestattet, hat sich meine Persönlichkeit und klare Sprache nicht verändert.

Das Europäische Parlament hat sich von Anfang an deutlich gegen eine Vertragsänderung ausgesprochen. Weil sie schlicht nicht notwendig war. Weil wir befürchteten, dass eine Debatte über Vertragsänderungen die Büchse der Pandora öffnen würde. Die Bürgerinnen und Bürger haben aber kein Verständnis dafür, wenn wir jetzt mitten in der Krise über Institutionen und Vertragsartikel streiten. Sie erwarten von uns Antworten auf ihre Alltagssorgen! Bleiben wir diese Antworten schuldig, wird das Vertrauen in politische Institutionen, nationale und europäische gleichermaßen, weiter beschädigt.
Lassen Sie uns endlich wieder über Inhalte reden! Lassen Sie uns darüber reden, wie wir Europa aus der Krise führen wollen! Lassen Sie es uns mit Tatkraft anpacken! Das Europäische Parlament will einen konstruktiven Beitrag leisten, dafür bedarf es aber seiner Einbindung.
Meine Damen und Herren,
der Fiskalpakt erklärt die Haushaltsdisziplin zum Allheilmittel gegen die Schuldenkrise, schreibt nationale Schuldenbremsen und automatische Sanktionen vor. Sicher ist, besonnenes Haushalten ist notwendig, um die Staatsverschuldung in den Griff zu kriegen. Sicher ist, der Schuldenabbau ist eine Frage der Generationengerechtigkeit.
Sonst finden wir uns eines Tages in der beschämenden Situation wieder, dass wir anstatt unseren Kindern ein Haus zu hinterlassen, nur mehr den dazugehörigen Immobilienkredit vererben.
Sicherzustellen, dass die Krise sich nicht wiederholt, ist zwar notwendig, doch es ist nicht genug nur Austeritätsmassnahmen durchzudrücken, wir brauchen auch Wirtschaftswachstum und Jobs.
Das Europäische Parlament vertritt seit Langem die Auffassung: ja zu nachhaltigen Haushalten – aber auch ja zu Investitionen. Europa braucht Investitionen, um den Wirtschaftsaufschwung anzukurbeln, um die Nachfrage zu stärken, und um dann nicht zuletzt die Schuldenberge abzutragen. Europa braucht Wachstum, um Jobs zu schützen und neue zu schaffen, um Renten und Ausbildung zu sichern.
45 Millionen Menschen haben in Europa heute keine Arbeit – das ist ein Negativrekord. Dass fünf Millionen junge Menschen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren arbeitslos sind, in Spanien gar fast jeder zweite Jugendliche ohne Job, muss uns alle mit Sorge erfüllen. Wächst eine ganze Generation von Jugendlichen ohne Perspektive auf, droht die innere Zersetzung einer ganzen Gesellschaft.
Was werden wir tun, um Europas Wirtschaft anzukurbeln, damit diese Menschen wieder Arbeit haben?
Wir, die Abgeordneten des Europäischen Parlaments, haben ein ums andere Mal, in unzähligen Entschließungen, konkrete Maßnahmen zur Ankurbelung der Wirtschaft, zur Finanzmarktregulierung und zum Ausgleich der wirtschaftlichen Ungleichgewichte zwischen den Ländern beschlossen und Ihnen vorgelegt – zuletzt im Six-Pack.
Das Europäische Parlament ist der Ort der kontroversen Debatte über die politische Richtung in der EU. Der Ort, an dem die Sorgen der Menschen Gehör finden und Ihre Interessen lautstark vertreten werden. Das ist sicher oft problematisch, manchmal störend, aber wir sind stets bemüht konkrete Lösungen zu erarbeiten.
Deshalb fordern wir auch mit der seltenen Mehrheit von 530 Stimmen quer durch alle Fraktionen, gleichberechtigt mit den anderen Institutionen an den Verhandlungen beteiligt zu sein.
Der anhaltende Trend, Gipfeltreffen dieser Art als Lösung zu betrachten, die dann aber nicht erreicht werden, weckt Erwartungen, die dann nicht erfüllt werden. Das gefährdet das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der EU.
Sie haben nun den Versuch unternommen, den Grundstein für eine Fiskalunion zu legen – diesen Schritt begrüßen wir.
Sie mussten diesen Schritt, bedingt durch das Veto von Premierminister Cameron in der Formation der 26 tun. Ich will Ihnen hier in aller Deutlichkeit dafür danken, dass Sie Widerstand geleistet haben, als Premierminister Cameron Ausnahmen von den Finanzmarktregeln erreichen wollte.
Bei allem Verständnis für die Zwänge, denen Ihr Handeln unterlag, will ich hier dennoch eindringlich vor zwei hochgefährlichen Entwicklungen warnen:
Erstens, einer Spaltung der EU müssen Sie sich zusammen entgegenstellen. Wir können nicht zulassen, dass sich die EU in ihre Einzelteile zerlegt oder das Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten zementiert wird. Allein sind wir schwach, gemeinsam sind wir stark!
Zweitens, eine Fiskalunion außerhalb der Kontrolle der Volksvertreter werden wir nicht akzeptieren! Die Kohärenz der Unions-Gesetzgebung muss erhalten bleiben, wir können uns nicht zwei unterschiedliche Standards leisten.
Wie mir die Parlamentsvertreter aus den Verhandlungsrunden mitteilten, scheint der Fiskalpakt nun wieder die Gemeinschaftsmethode zur Grundlage zu machen.
Das Parlament wird jetzt – nach zähem Ringen – endlich wieder als gleichberechtigter Gesetzgeber respektiert. Das ist bereits eine gute Nachricht: der Europäische Rat unternimmt vorerst keine weiteren Schritte auf der abschüssigen Bahn des Intergouvernementalismus.
99% aller Regelungen hätte man auch im normalen Gesetzgebungsverfahren erreichen können. Sie sind über den Umweg einer Debatte über Vertragsänderungen und eines zwischenstaatlichen Abkommens dann wieder im normalen Gesetzgebungsverfahren angelangt. Das ist gut so, wäre aber einfacher zu haben gewesen.
Dennoch haben einige Vorschläge des Europäischen Parlaments bislang im Entwurf keinen Niederschlag gefunden. Ich appelliere an Sie, diesen Forderungen jetzt endlich Gehör zu schenken:
Erstens, der gesamte Inhalt des Fiskalpakts muss innerhalb von fünf Jahren in das EU-Vertragsrecht überführt werden.
Zweitens, das Europäische Parlament muss an allen Eurogipfeln und Europäischen Gipfeln teilnehmen.
Drittens, allen 26 Vertragsparteien des Abkommens muss das gleiche Recht zur Teilnahme an Euro-Gipfeltreffen gewährt werden, ob sie nun Mitglieder oder Nichtmitglieder des Euroraums sind.
Auch der Europäische Stabilitätsmechanismus wurde ohne unsere Einbeziehung verhandelt – das ist für uns nicht hinnehmbar.
Sehr geehrte Damen und Herren,
Europa muss sich zu einer echten Wirtschafts- und Fiskalunion weiterentwickeln. Zu dieser Erkenntnis kommen wir jeden Tag beim Blick über den Atlantik: der Schuldenstand und die Inflation sind in den USA deutlich höher als in Europa. Warum schlagen die USA sich dennoch nicht in gleichem Masse mit denselben Problemen herum wie wir?
Weil wir nicht als Einheit handeln. Weil wir keine Mechanismen haben, um die wirtschaftliche Ungleichgewichte zwischen verschiedenen Ländern auszubalancieren, weil wir die im Six-Pack beschlossenen Maßnahmen nicht anpacken. Wir unterwerfen uns dem Diktat des Marktes und hinken dennoch immer dem von den Rating-Agenturen vorgegebenen Takt hinterher.
Die jetzige Rettungsstrategie bewertete ausgerechnet Standard & Poor’s unlängst als „selbstzerstörerisch“; der Fiskalpakt setzte zu einseitig auf verschärftes Sparen, ohne das Wachstumspotenzial zu heben. Mit dieser Einschätzung wurde die Herabstufung von neun Euro- Ländern begründet!
Der Fiskalpakt zielt darauf ab das Vertrauen der Märkte zurückzugewinnen, das brauchen wir auch. Doch dürfen wir dabei nicht das Vertrauen der Menschen verlieren!
2012 ist das Jahr in dem wir aus der Krise herauskommen müssen. Das Europäische Parlament will daran konstruktiv und engagiert mitarbeiten.
Wie sehen unsere konkreten Vorschläge aus?
Wir wollen eine Finanztransaktionssteuer – eine überwältigende Mehrheit hat im Europäischen Parlament ihre Einführung bereits im März 2011 gefordert. Es ist eine Frage der Fairness, die Verursacher der Krise nicht mit Milliarden-Bond in der Tasche davonkommen zu lassen während die Steuerzahler die Zeche für die Spekulanten zahlen. Mit einer Steuer von nur 0,05% könnten in der EU jährlich rund 200 Milliarden Euro eingenommen werden. Hochspekulativer und Computer-gestützter Handel würden dadurch weniger attraktiv, die Finanzmärkte stabiler.
Wir wollen Eurobonds. Gemeinsame Anleihen mit einem niedrigen Zinssatz können die Schuldenkrise entschärfen und das Bankensystem stabilisieren. Eurobonds sind eine mächtige Waffe gegen Spekulation und explodierende Zinsen. In diesen Tagen mussten wir wieder erleben, dass Hedgefonds gezielt auf eine Staatspleite Griechenlands wetteten. Das muss aufhören. Eurobonds sind auch ein Symbol dafür, dass Europa an seine gemeinsame Zukunft glaubt.
Wir wollen eine Europäische Rating-Agentur. Eine Rating-Agentur, die das US-amerikanische Monopol aufbricht, nach klaren Kriterien bewertet, transparente Besitzverhältnisse hat und daher nicht durch Interessenkonflikte belastet ist.
Wir wollen eine Europäische Wachstumsinitiative. Eine sinnvolle Maßnahme wäre die Milliarden an nicht abgerufenen Geldern im EU Budget, anstatt sie an die Mitgliedstaaten zurückzuzahlen, gezielt für Wachstumsprojekte einzusetzen, ganz besonders auch für Jugendbeschäftigung.
Wir begrüßen ausdrücklich die Ankündigung von Präsident Barroso, heute eine Wachstumsinitiative vorzustellen.
Unter dem Druck der Märkte, im Angesicht sich überschlagender Ereignisse ist es manchmal schwer, über Tageslosungen hinauszudenken, einen Augenblick innezuhalten, sich zu vergegenwärtigen, dass hier in diesem Ratsgebäude, in der Kommission, im Parlament Geschichte geschrieben wird. Europa teilt ein gemeinsames Schicksal. Wir tragen alle gemeinsam die Verantwortung, mutig neue Integrationsschritte zu gehen, den Menschen auch schwere Entscheidungen zu erklären, und ihnen zu zuhören.
Es heißt, die Bürgerinnen und Bürger machen das nicht mit, mehr Europa. Das glaube ich nicht. 77 Prozent der EU-Bürger wünschen sich eine engere wirtschaftspolitische Koordinierung. In ihren Augen ist die EU nicht das Problem, die EU ist die Lösung.
Verspielen wir dieses Vertrauen nicht, packen wir die Finanztransaktionssteuer, die Eurobonds und die Europäische Wachstumsinitiative endlich an!
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.“
Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlament