
Schonungslose Sicht des SPD-Kanzlerkandidaten auf die Euro-Krise: Das Schulden-Drama ist teuer und hat viel Vertrauen zerstört. Steinbrück warnt davor, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt in Europa schwindet. Gefährlich sei insbesondere die hohe Jugendarbeitslosigkeit in den Krisenländern Spanien, Griechenland, Italien oder Portugal.
SPD.de dokumentiert den Gastbeitrag von Peer Steinbrück für „Die Welt“ in voller Länge:
Am 30. Januar 2010 kommentierte die „Welt“ „Zur Hilfe verdammt“ und meinte damit die europäische Staatengemeinschaft, und nicht zuletzt die Bundesregierung, in Bezug auf Griechenland.
Seitdem sind bis heute etwas mehr als 1000 Tage vergangen, fast drei Jahre. Es waren turbulente Jahre für Europa und die gemeinsame Währung. Wir haben mittlerweile Dutzende europäische Gipfeltreffen erlebt, diverse Nachtsitzungen und errungene Rettungsergebnisse. Die „Krise des Euro“ ist zu einem ständigen Begleiter geworden. Die Hoffnung zu Beginn des Jahres 2013, dass das Schlimmste bereits überstanden sei, ist jedoch verfrüht.
Die Fortsetzung der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise in Europa, in der es einigen Mitgliedsstaaten der Währungsunion zunehmend schwerfiel, sich zu tragfähigen Konditionen am Kapitalmarkt Geld zu leihen, hat verschiedene Ursachen.
Zum einen ist es in einigen Ländern die zu hohe Verschuldung der öffentlichen Haushalte gewesen, die Investoren an der Kreditwürdigkeit hat zweifeln lassen und sie weiter zweifeln lässt. Dabei ist diese Verschuldung maßgeblich Folge der Bankenstabilisierung und Konjunkturprogramme im Zuge der Finanzmarkt- und Wachstumskrise.
Zum anderen war die Währungsunion mit ihrem Instrumentarium bis 2009 nicht in der Lage, realökonomische Fehlentwicklungen – das Auseinanderdriften der Wettbewerbsfähigkeit in Europa – zu erkennen und zu beheben. Hätte die Union vor der Krise über entsprechende Indikatoren verfügt, wären die Disparitäten zwischen den Euro-Staaten frühzeitig als Problem zu erkennen gewesen.
Labile Banken auch 2013 auf der Agenda
Die dritte und lange unterschätzte Ursache der Krise waren und sind labile Banken und ein insgesamt unkonsolidierter europäischer Bankensektor. Den systemrelevanten Kreditinstituten Europas ist es ausnahmslos gelungen, von den Staaten gerettet zu werden. Darüber haben sie Infektionskanäle zu den öffentlichen Haushalten gelegt, was die Spiralbewegung der Krise immer wieder von Neuem anfacht.
Insbesondere die Behebung der beiden letztgenannten Ursachen der Krise wird auch 2013 auf der Agenda stehen müssen. Sie skizzieren die gesellschaftliche und originär politische Dimension dieser Krise, die mehr kostet als Geld. Sie kostet Vertrauen, die wichtigste Münze der Politik, weil die Menschen den Glauben daran verlieren, dass die Lasten der Krise gerecht verteilt werden.
Geld kostet diese Krise, gerade uns Deutsche, aber auch. Dieser Umstand wurde vonseiten der Bundesregierung zu lange tabuisiert, verschleiert und vernebelt. Seit dem Ausspruch „Kein Cent für Griechenland“ zu Beginn des Jahres 2010 belaufen sich die potenziellen Kosten für Deutschland bei einem Zahlungsausfall Griechenlands bereits auf 79 Milliarden Euro.
1,2 Billionen Euro im schlimmsten Fall fällig
Der Gesamthaftungsrahmen der Rettungspolitik ist noch weitaus größer: 211 Milliarden Euro für die EFSF, 190 Milliarden Euro für denESM und 750 Milliarden Euro über die Target-II-Forderungen der Bundesbank. Dazu kommen 57 Milliarden Euro als Anteil der Bundesbank an den bereits getätigten Staatsanleihekäufen der EZB. Summa summarum sind das rund 1,2 Billionen Euro. Das gilt zwar im schlechtesten Fall, aber sicher ist, dass sich Deutschland längst in einer Haftungsunion befindet.
Den Schleiertanz um diese Wahrheit muss die Bundesregierung endlich beenden, denn es werden weitere Belastungen auf den Bundeshaushalt zukommen: über einen erneuten Schuldenschnitt für Griechenland und über die Rekapitalisierung von Banken durch den aus Steuergeld gedeckten Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM).
Die Strategie, mit viel Geld Zeit zu kaufen, hat nur unzureichend funktioniert. Denn obwohl wir in Deutschland auf einer Insel der Glückseligen zu wohnen scheinen, hat sich die wirtschaftliche Situation in Europa verschlechtert und eben nicht verbessert. Die Wachstumsaussichten für 2013 sind alles andere als rosig, das trifft auch für Deutschland zu. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Die Konzentration des gesamten Krisenmanagements auf die Konsolidierung öffentlicher Haushalte in Europa hat zu einer massiven Überdosis bei der verabreichten Reformmedizin geführt.
Wenig wird vorangetrieben
Gewiss, die Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstumspakts und die Ergänzung durch den Fiskalpakt sind richtige und wichtige Schritte gewesen. Das Ungleichgewicht in der Krisenpolitik ergibt sich jedoch aus zu halbherzigen und zaghaften Versuchen, daneben das gesamtökonomische Umfeld in Europa zu verbessern, sich also den massiven sozialen Folgen der Konsolidierung zu stellen.
Zu wenig ist geschehen bei einer Verbesserung der Koordinierung von Wirtschaftspolitik zwischen den Mitgliedsstaaten der Währungsunion. Hier gibt es eine Reihe von Beschlüssen und Verabredungen, mehrere Wachstumspakte, eine EU-2020-Strategie oder einen Euro-Plus-Pakt, aber wenig davon wird konkret vorangetrieben, geschweige denn vernünftig koordiniert, damit die ökonomischen Impulse für mehr Arbeitsplätze wirken können. Hier werden Hoffnungen zerstört, während andererseits die Bestimmungen zur Schuldenbegrenzung hart durchgesetzt werden.
Was Europa damit auch nach dem Gipfel des Europäischen Rates im Dezember fehlt, ist eine konsistente und verbindliche Koordinierung von Wirtschafts-, Fiskal- und Sozialpolitik mit dem klaren Ziel, Wachstum und Wohlstand zu sichern und zu erhalten. Hier ist das Erreichte deutlich zu wenig, mit erheblichen gesellschaftlichen Folgekosten. Europa ist aus dem Gleichgewicht geraten.
Jugendliche verlieren Hoffnung
Die Situation in den Krisenländern Spanien, Griechenland, Italien oder Portugal ist keineswegs besser geworden, sondern sie wird seit drei Jahren immer schlechter. Wir haben es mittlerweile in ganz Europa mit einer jungen Generation zu tun, die sich als verloren betrachtet und derzeit keine Hoffnung mehr in Europa setzt.
Viele der jungen Griechen, Spanier, Portugiesen oder Italiener sind hervorragend ausgebildet. Aber sie verlieren die Hoffnung auf eine gute Zukunft und das Vertrauen in die demokratischen Institutionen ihrer Länder. Europa erscheint ihnen nicht als Perspektive, sondern als Ursache ihrer Probleme.
Das ist fatal und die nackten Zahlen sind erschreckend. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt heute im Durchschnitt der Europäischen Union bei 23 Prozent. Das sind gut acht Millionen arbeitslose junge Menschen. Vor Ausbruch der Krise 2007 lag die Quote in keinem einzigen Land über 25 Prozent.
Heute ist sie in sieben Ländern höher als 25 Prozent, in vier Ländern höher als 30 Prozent und in zwei Ländern höher als 50 Prozent – in Griechenland und Spanien. In einer Studie geht die Unternehmensberatung Ernst&Young davon aus, dass im Jahr 2013 20 Millionen Menschen in Europa arbeitslos sein werden, vier Millionen mehr als 2010. Was diese Zahlen für die demokratische Substanz Europas, seine Strahl- und Anziehungskraft heißt, ist leicht ausrechenbar.
Es wird – und dies ist der Kern des zu lösenden Dilemmas – immer klarer, dass die alleinige Konzentration auf Fehlentwicklung bei Haushaltskennzahlen die Krise nicht beenden wird. Dieses Ungleichgewicht im Krisenmanagement muss behoben werden, weil der Schaden für die europäische Demokratie und den sozialen Frieden in Europa bereits heute immens ist.
Gesellschaftlicher Zusammenhalt schwindet
Wir haben es im Zuge des notwendigen Abbaus der Verschuldung europaweit mit einem unverhältnismäßigen Rückgang des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu tun, der an die Grundfesten des europäischen Hauses geht. Die Politik gerät in eine Legitimationskrise, wenn harte Einschnitte und Zwangskuren die konkrete Lebenssituation von Millionen Menschen verschlechtern. Während die Banken gleichzeitig von einer impliziten Staatshaftung zulasten der Steuerzahler profitieren.
Vor allem in Griechenland wird die Lage zunehmend dramatisch: Die griechische Wirtschaft schrumpft seit 2009 und auch für das laufende Jahr sind die Prognosen pessimistisch und liegen bei einem Minuswachstum von 6,5 Prozent.
Mittlerweile erreicht der Schuldenstand nominal fast das im ersten Hilfsprogramm 2010 vereinbarte Niveau im Vergleich zur Wirtschaftsleistung. Allerdings wird er wegen des enormen Wachstumseinbruchs deutlich höher ausfallen als vereinbart. Die Bruttoinvestitionen zwischen 2008 und 2011 sind um 43 Prozent gesunken, der Kapitalstock schrumpft.
Die Schlinge um den Hals der griechischen Volkswirtschaft wird immer enger und kein Ausweg scheint in Sicht. Und das alles, obwohl die Bevölkerung bereits enorme Belastungen und Zumutungen erträgt: Überträgt man die Einsparungen in ihrer Dimension auf Deutschland, dann sprechen wir von Kürzungen in Höhe von 150 Milliarden Euro, mehr als ein Drittel des Bundeshaushaltes.
Deutsche Überheblichkeit ist gerade gegenüber der griechischen Bevölkerung nicht angebracht. Auch weil die Bundesregierung selbst 100 Milliarden neue Schulden in den letzten drei Jahren gemacht hat.
Depression durch einseitige Austerität
Der einseitige Kurs der Austerität hat Griechenland in eine gesellschaftliche Depression gestürzt. Und das ist gefährlich. Die Selbstmordrate in Griechenland hat sich in den letzten drei Jahren verdoppelt. Hochschwangere Frauen eilen von einem Krankenhaus zum anderen beim Versuch, jemanden zu finden, der ihnen ohne Krankenversicherung, die sie sich nicht mehr leisten können, dabei hilft, ihre Kinder zur Welt zu bringen.
Wer sonst ins Krankenhaus kommt, muss Bettwäsche selbst mitbringen, und seit Neuestem behandeln Ärzte nur noch gegen Bargeld. Es fehlt an medizinischem Gerät wie in einem Entwicklungsland, und die EU-Kommission warnt angesichts der angespannten hygienischen Lage in den Krankenhäusern vor der Gefahr von Infektionskrankheiten.
Diese Geschichten machen deutlich, dass sich eine ganze Gesellschaft in einer kollektiven Traumatisierung befindet und der gesellschaftliche Kitt schwindet. Rechtsradikale Kräfte liegen in Umfragen bei zwölf Prozent, was sie zur drittstärksten politischen Kraft machen würde. Griechenland ist das erste europäische Land, das Flüchtlinge aus Krisenregionen im Nahen Osten oder Afrika erreichen.
Amnesty International geht davon aus, dass sich derzeit bis zu 100.000 irreguläre Flüchtlinge auf den Straßen Athens aufhalten. Die Zustände in griechischen Flüchtlingslagern sind sogar derart miserabel, dass die Bundesregierung seit 2011 keine Flüchtlinge mehr dorthin zurückschickt. Das gesellschaftliche Auffangnetz in Griechenland ist zusammengebrochen, eine Solidargemeinschaft existiert kaum noch, wenn man die Absetzbewegungen der wohlsituierten Schichten in den Blick nimmt.
Es ist diese gesellschaftliche Dimension der Krise, die in der deutschen Europapolitik unterschätzt wird. Wer nicht weiß, wohin er mit Europa und seinen Gesellschaften will, wer kein Bild von einem sozialen und friedfertigen Europa hat, der kann seiner Politik auch keine Erzählung geben. Er kann sie nicht erklären und konzentriert sich deshalb auf nackte Kennzahlen. Das ist für Europa zu wenig.
Gleichgewicht geht nur miteinander
Politik darf nie blind für gesellschaftlichen Zusammenhalt sein – in Deutschland nicht und in Europa auch nicht. Wirtschaftspolitik ist immer auch Gesellschaftspolitik, und deshalb muss jedes Krisenmanagement das Große und Ganze im Blick halten: ein europäisches Modell von gesellschaftlichem Wohlstand, guter Nachbarschaft und die Qualität einer Zivilisation, die weltweit unerreicht ist. Um nichts weniger geht es.
Die Bewältigung der Krise und ihrer enormen Folgekosten sind in Europa wie auch in Deutschland nur durch gemeinsame Kraftanstrengungen, eine konsistente Strategie und die Überzeugung zu schaffen, dass Europa all diese Anstrengungen wert ist. Europa wieder ins Gleichgewicht zu bringen geht nur miteinander. Unsere europäischen Nachbarn wünschen sich ein starkes Deutschland.
Aber viele haben etwas gegen ein starkes Deutschland, das mit seinem wirtschaftlichen Gewicht und seinem politischen Einfluss Beschlüsse herbeiführt, mit denen andere, schwächere Länder nicht leben können. Es braucht vielmehr ein Deutschland, das sich mit seiner ökonomischen Stärke und in europäischer Verantwortung für den Erhalt eines solidarischen Kontinents einsetzt. Das ist nicht zuletzt in einem nationalen Interesse, weil es dieser exportgetriebenen deutschen Wirtschaft samt ihren Arbeitsplätzen immer nur so gut geht, wie es unseren Nachbarn gut geht.
Quelle: Website SPD.de