Drei Fragen an Constantin Goschler

Am heutigen Tag der Befreiung gedenken wir der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht und der damit einhergehenden Befreiung vom Nationalsozialismus in Europa vor 75 Jahren. Anlässlich dieses Tages stellen wir drei Fragen an Prof. Dr. Constantin Goschler, Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte und Dekan der Fakultät für Geschichtswissenschaften an der Ruhr Universität Bochum.

 

– War der 8. Mai 1945 die berühmte „Stunde Null“, von der später gern gesprochen wurde?

Im Erleben vieler Zeitgenossen bedeutete der 8. Mai 1945 einen tiefen Bruch, den Beginn einer neuen Zeit, deren Bedingungen zunächst noch ungewiss waren. Die Rede von einer „Stunde Null“ suggeriert einen bedingungslosen Neuanfang. Aber trotz aller Veränderungen war das Vorher und Nachher auf vielen Ebenen mit einander verbunden. Dies betraf gleichermaßen Personen wie Institutionen. Deshalb konnte die „Stunde Null“ auch leicht zu einem Teppich werden, unter den man die unbequemen Anteile der Vergangenheit kehren konnte.

– Welche Rolle spielt der 8. Mai im öffentlichen Gedächtnis unseres Landes oder welche Rolle sollte er Ihres Erachtens spielen?

Der 8. Mai spielt zu Recht eine wichtige Rolle im öffentlichen Gedächtnis unseres Landes: Er verbindet die deutsche und die globale Erinnerung an das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft und des von ihr angezettelten Zweiten Weltkriegs. Die öffentliche Erinnerung dieses Datums, die immer politisch ist, erfordert eine klare normative Positionierung. Doch treten hier Spannungen auf, denn im privaten und teilweise auch im öffentlichen Gedächtnis wirken die unterschiedlichen Deutungen der damaligen Zeitgenossen weiter: Diese erlebten den 8. Mai 1945 wahlweise als Niederlage, Zusammenbruch oder Befreiung. Das künftige öffentliche Gedenken muss mit diesen Spannungen sensibel umgehen. Gleichzeitig muss das öffentliche Gedenken an den 8. Mai einen angemessenen Platz in einer transnationalen Erinnerungskultur finden, die überwiegend von den Siegern des Zweiten Weltkriegs geprägt wird. Die normativ begründete Deutung dieses Datums als Befreiung birgt dabei freilich auch die Gefahr, dass sich die Bundesrepublik auf diese Weise ironischerweise zum Sieger der Geschichte ausrufen könnte.

– Warum gelang es nicht, viele der Verantwortlichen des NS-Regimes alsbald für Ihre Taten zur Rechenschaft zu ziehen?

Das Problem begann bereits bei der alliierten Uneinigkeit, wer überhaupt als Verantwortlicher zu betrachten war. Hier führten unterschiedliche Analysen der Funktionsweise des NS-Regimes zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Soweit es um strafrechtliche Schuld ging, konzentrierten sich die Anstrengungen dann weitgehend auf die exemplarische Bestrafung ausgewählter Täter, nicht nur, weil die Kenntnisse der Verbrechen oftmals noch ungenau waren, sondern auch, weil dies nach Kriegsende zunächst die juristischen Kapazitäten überschritt. So war etwa die Zahl der Angeklagten in den Nürnberger Prozessen schlicht durch die Größe des Gerichtssaals beschränkt. Die politische Verantwortung sollte hingegen durch das Instrument der Entnazifizierung geklärt werden. Auch hier erschwerten die schieren Größenordnungen der Betroffenen die Verfahren erheblich. Bereits Ende der 1940er Jahre sorgte allerdings die Pragmatik des Wiederaufbaus im Zeichen des durch den Kalten Krieges geförderten Systemwettstreits der beiden deutschen Nachkriegsstaaten dafür, dass der Eifer bei der Verfolgung krimineller wie politischer Schuld für längere Zeit stark zurück trat.